Die Kunst des Märchenerzählens
Publiziert am 14.07.2017 von Brigitta Schieder
© Petra Lefin, Don Bosco Medien
Märchenerzählen als immaterielles Kulturerbe
Es ist eine schöne Nachricht für alle, die Märchen lieben: Das Märchenerzählen wurde immaterielles Kulturerbe! Und zwar ausdrücklich das Erzählen von Märchen der Völker und von anderen tradierten Geschichten. Es geht also nicht um das Erzählen individuell geprägter Geschichten, auch nicht um "zeitgemäß" angepasste Neuerzählungen, sondern um Erzählungen, die über mehrere Generationen hinweg ihre Allgemeingültigkeit bewahrt haben.
Alte Volksmärchen in der jetzigen Zeit?
Ich höre schon den Widerspruch: Hört sich ja gut an – aber kann man die überlieferten Volksmärchen heutzutage wirklich noch guten Gewissens erzählen? Die sind doch total antiquiert! Aus meinem großen Erfahrungsschatz heraus, den ich über Jahrzehnte als Märchenerzählerin sammeln konnte, lautet meine Antwort aber ganz eindeutig: Ja! Man kann!
Auch die TeilnehmerInnen meiner Ausbildungslehrgänge in der Erzählwerkstatt berichten immer wieder begeistert von der Resonanz, die ihre Märchenstunden auslösen. Dabei kommen noch einmal andere innere Bilder und Emotionen zum Vorschein, als das sonst beim Vorlesen und Erzählen erlebt wird.
Besondere Methode
Die Ursache für diese besondere Wirkung sehe ich vor allem in der ganz speziellen Methode der Textaneignung, die wir in der "Erzählwerkstatt" erlernen und üben.
Im Basiskurs beschäftigen wir uns zunächst intensiv mit den Hintergründen und Bedeutungen der symbolischen Texte und erleben dabei, wie dieses Wissen unser Vorlesen oder individuelles Erzählen belebt. In dieser Phase entdecken die meisten TeilnehmerInnen auch ihre Liebe zu den – bis dahin – oft unverstandenen Volksmärchen.
Im Aufbaukurs eignen wir uns die alten Märchen weitgehend im Wortlaut an. Die Methode, die dabei vermittelt wird, hat nichts mit auswendig lernen zu tun, lebt aber auch nicht allein von den eigenen inneren Bildern, die man als ErzählerIn hat. Dabei wird auf eine Weise mit Sprache gearbeitet, bei der ein Austausch der rechten und linken Hirnhemisphären genutzt wird: Kopf und Herz, Sachwissen und Kreativität werden so miteinbezogen, dass sie in lebendigem Austausch stehen und damit eine erstaunliche Wirkung bei den Erzählenden zeigen: Die Texte, die sie sich so erarbeitet haben, können sie über lange Zeiträume immer wieder mühelos, stressfrei und im Wortlaut abrufen. Ebenso profitieren die Zuhörer jeden Alters davon, weil die klare Erzählstruktur von Bild zu Bild führt, keine Verwirrung stiftet, Raum lässt für die eigenen Empfindungen und Vorstellungen und letztlich harmonisierend auf innere Unruhe einwirkt.
Was Märchen alles können
Es wird spürbar, dass diese alten Symbolgeschichten auf besondere Weise Gemeinschaft stiften: Zwischen Kulturen, Religionen und Generationen. Fantasie und Kreativität werden angeregt und die Hoffnungen auf ein eigenes geglücktes Leben werden ganz nebenbei gestärkt.
Diese alten Erzählstoffe sind natürlich "Geschichten gegen den Zeitgeist" – sie sperren sich gegen jeden raschen, hektischen Zugriff. Sie wollen mit ihren Symbolbildern nach innen genommen und "gekostet" werden wie eine unbekannte Speise. Auch die Beschäftigung mit den alten Sprachbildern ist hochinteressant und spannend. Beim Blick ins Herkunftswörterbuch kann man über etymologische Zusammenhänge, über Wortbedeutungen, von denen wir keine Ahnung mehr hatten und die uns doch alle über Generationen geprägt haben, staunen. All das befähigt dazu, auch vorgegebene, alte Sprache locker und lebendig zu gestalten. Warum sollten wir diese Kostbarkeiten aus unseren Erzählungen herausstreichen? Sie werden im Zusammenhang entweder intuitiv verstanden, oder können im Anschluss zu einem interessanten Gespräch führen.
Mit dieser Grundeinstellung und einigem hilfreichen "Erzählwerkzeug", das in der "Erzählwerkstatt" selbstverständlich auch vermittelt wird, werden wir zu Brückenbauern: Zwischen den wertvollen Lebenserfahrungen der Vorfahren und den gar nicht so neuen Fragen und Nöten unserer eigenen Zeit.
Hier gibt es Infos zur Ausbildung zum Märchenerzähler in der Erzählwerkstatt. Der nächste Basiskurs beginnt am 28.10.17.
Empfehlungen
Brigitta Schieder
Brigitta Schieder, Dipl.-Logotherapeutin, Ausbildung bei der Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse in Wien. Die Märchenerzählerin leitet Seminare für die Europäische Märchengesellschaft sowie Fortbildungen für ErzieherInnen und Lehrkräfte.
mehr zum AutorIhre Meinung ist uns wichtig.
Deshalb freuen wir uns über Ihr persönliches Feedback
Brigitta Schieder
Brigitta Schieder, Dipl.-Logotherapeutin, Ausbildung bei der Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse in Wien. Die Märchenerzählerin leitet Seminare für die Europäische Märchengesellschaft sowie Fortbildungen für ErzieherInnen und Lehrkräfte.
mehr zum Autor