Erzählen in Leichter Sprache
Publiziert am 20.06.2017 von Katharina Gernet
© Petra Lefin, Don Bosco Medien
„Wollt ihr eine Geschichte hören?“
Geschichten belustigen, trösten, ermutigen, belehren ... So unterschiedlich Geschichten sein können, so vielfältig lassen sie sich in der pädagogischen Arbeit einsetzen. Ich bin beruflich als Kursleiterin im Bereich Grundbildung/Alphabetisierung für die Volkshochschule Braunschweig tätig. Dabei arbeite ich mit erwachsenen Kursteilnehmern, die Probleme beim Lesen und Schreiben auf Deutsch haben. Ihre Sprachkompetenz ist eingeschränkt, entweder weil sie Lernschwierigkeiten, kognitive Einschränkungen oder eine einfache Bildungsbiografie haben, oder weil sie erst dabei sind, Deutsch als Zweit- oder Fremdsprache zu erlernen.
Für den Unterricht benutze ich gern Geschichten, die sich für die Einführung bestimmter Themen (z.B. Wie drücke ich Gefühle aus? Wie beschreibe ich Personen?) oder als Grundlage für Lese-, Sprech- und Schreibübungen nutzen lassen. Auf der Suche nach leicht verständlichen, kurzen Texten stelle ich allerdings oft fest, dass sich „ganz normale“ Geschichten nicht ohne weiteres eignen: Texte, die für Schulkinder verfasst wurden, sind inhaltlich für meine erwachsenen Kursteilnehmer nicht passend. Geschichten für Erwachsene aus belletristischen Anthologien oder auch Märchen sind sprachlich zu anspruchsvoll.
Die schwierige Sprache erzählender Literatur
Sehen Sie sich z.B. den Anfang des Märchens „Hänsel und Gretel“ in einer klassischen Fassung an:
Vor einem großen Wald wohnte ein armer Holzhacker mit seiner Frau und seinen zwei Kindern; das Bübchen hieß Hänsel und das Mädchen Gretel. Er hatte wenig zu beißen und zu brechen, und einmal, als große Teuerung ins Land kam, konnte er auch das tägliche Brot nicht mehr schaffen. Wie er sich nun abends im Bette Gedanken machte und sich vor Sorgen herumwälzte, seufzte er und sprach zu seiner Frau: „Was soll aus uns werden? Wie können wir unsere armen Kinder ernähren, da wir für uns selbst nichts mehr haben?“ „Weißt du was, Mann?“, antwortete die Frau. „Wir wollen morgen in aller Frühe die Kinder hinaus in den Wald führen, wo er am dicksten ist, da machen wir ihnen ein Feuer an und geben jedem noch ein Stückchen Brot; dann gehen wir an unsere Arbeit und lassen sie allein. Sie finden den Weg nicht wieder nach Haus, und wir sind sie los.“ ...
Problematisch sind z.B. einzelne Wörter. Was ist ein „Holzhacker“? Und was bedeutet „Teuerung“? Formulierungen wie „nichts zu beißen und brechen haben“ oder „das tägliche Brot schaffen“ verwirren meine Kursteilnehmer, Neben dem Vokabular gibt es auch auf der Ebene der Grammatik Verständnisbarrieren, etwa in Form von langen, komplexen Satzkonstruktionen („Wie er sich ... wälzte, seufzte er und sprach ...“).
Geschichten verständlich machen durch Leichte Sprache
Wenn ich im Unterricht Geschichten wirkungsvoll einsetzen und dabei Verunsicherung und Irritation bei den Kursteilnehmern vermeiden will, muss ich auf deren sprachliche Kompetenzen Rücksicht nehmen. Hierbei hilft Leichte Sprache.
Leichte Sprache ist eine vereinfachte Ausdrucksweise, die Verständlichkeit zum obersten Ziel hat. Es gibt einen Katalog von Regeln für Texte in Leichter Sprache. Dieser wurde vom „Netzwerk Leichte Sprache“ in enger Zusammenarbeit mit Menschen mit kognitiven Einschränkungen erarbeitet. Auf der Grundlage dieser Regeln übertrage ich „normale“ Geschichten für meinen Unterricht in Leichte Sprache.
Ein Beispiel: „Hänsel und Gretel“ in Leichter Sprache
Mit dem Märchen „Hänsel und Gretel“ lässt sich im Unterricht das Thema „Gefühle“ gut einführen, denn in der Geschichte wird eine ganze Reihe von Gefühlen angesprochen, z.B. Hunger, Angst, Freude und Vertrauen. Der Anfang von „Hänsel und Gretel“ könnte in Leichter Sprache z.B. so aussehen:
Dies ist die Geschichte von Hänsel und Gretel.
Hänsel ist ein Junge.
Gretel ist ein Mädchen.
Die beiden Kinder sind Geschwister.
Der Vater von den Kindern arbeitet viel.
Aber er kriegt für seine Arbeit wenig Geld.
Er kann nur wenig Essen davon kaufen.
Es ist nicht genug für die Familie.
Die Eltern und die Kinder haben oft großen Hunger.
Der Vater macht sich große Sorgen.
Er überlegt:
Wir können die Kinder nicht satt machen.
Was sollen wir tun?
Die Mutter sagt:
Die Kinder müssen weg.
Wir führen sie morgen weit in den Wald hinein.
Wir machen ihnen ein Feuer an.
Sie kriegen auch ein Stück Brot.
Wir gehen dann weg
und lassen sie allein.
Sie finden nicht den Weg zurück nach Hause.
Und wir müssen uns nicht mehr um sie kümmern ...
Was hat sich geändert?
- Die Sätze sind kurz.
- Es gibt nur Hauptsätze, keine Nebensätze.
- Erzählt wird in der Gegenwartsform.
- Fast jeder Satz beginnt mit dem Subjekt.
- Schwierige Begriffe wie ‚ernähren‘ wurden durch konkrete Beschreibungen wie ‚satt machen‘ ersetzt.
- Die Bedeutung von festen Redewendungen wurde aufgeschlüsselt. Statt ‚nichts zu beißen und zu brechen haben‘ heißt es nun ‚Hunger haben‘.
Oft sind verschiedene Varianten der Übertragung von Texten in Leichte Sprache möglich. Ich überlege, welche Variante für meine jeweilige Zuhörerschaft am besten geeignet ist.
Noch ein Tipp für die Praxis: Vorlesen oder Erzählen?
Das freie Erzählen von Geschichten erlebt eine Renaissance. Wenn Sie aber im Sprechen in Leichter Sprache nicht geübt sind, ist es ein großer Schritt, eine Geschichte frei zu erzählen. Sehr leicht passiert es, dass Sie spontan auf gewohnte Ausdrucksweisen zurückgreifen und sich dabei in schwierigen Begriffen und Satzkonstruktionen verfangen. Halten Sie sich daher für Geschichten in Leichter Sprache am besten an die wohldurchdachte Fassung Ihrer eigens vorbereiteten Textvorlage und trainieren Sie, die Texte in Leichter Sprache möglichst lebendig vorzulesen.
Lesen Sie auch: Kamishibai mit Märchen in „Leichter Sprache“
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