Was ist Kinderspiritualität
Publiziert am 15.06.2016 von Esther Hebert
Der Himmel schenkt Kindern Boden unter den Füßen.
"Spiritualität? Dafür sind doch kleine Kinder noch gar nicht empfänglich!" Und in der Tat: Spiritualität hat etwas sehr Vergeistigtes im Klang; etwas, wofür man viel erlebt und viel wissen muss; auf jeden Fall aber etwas, für das man sich frei entscheiden können muss.
In Eltern-Kind-Gruppen, Kinderkrippen und Kindergärten erleben die erwachsenen BetreuerInnen aber täglich, mit welcher Selbstverständlichkeit Kinder philosophieren, theologisieren und in den Beziehungen zu den Erwachsenen und anderen Kindern spüren: "Da ist etwas, was mich trägt, liebt, auf das ich vertrauen kann".
Esther Hebert ist den Fragen nachgeganen "Was ist Kinderspiritualität?", "Wie entwickelt sie sich?", "Was macht Spiritualität mit Kindern?" und "Wie können Erwachsene Kinder in der Entwicklung ihrer spirituellen Intelligenz fördern?".
Der Begriff Kinderspiritualität umfasst die verschiedenen Aspekte der Spiritualität von Kindern, mit Kindern und für Kinder[1].
Was ist überhaupt Spiritualität?
Von der Wortbedeutung her leitet sich das Wort Spiritualität von Lateinisch „spiritus“ ab, was „Geist, Luft, Atem“ bedeutet. Im übertragenen Sinn weist das Wort „spiritus“ und „Spiritualität“ also auf den „Geist“ hin, der in etwas oder jemandem wirkt und der damit verbundenen „Begeisterung“. Der allgemeine Sprachgebrauch verwirrt eher: Spiritualität wird mit vielen verschiedenen Inhalten assoziiert, z.B. mit etwas Übernatürlichem oder Göttlichem, mit Esoterik genauso wie mit Frömmigkeitspraktiken in verschiedenen „festen“ Religionen. Aber auch ein umfassendes Harmoniegefühl zwischen Mensch und Natur oder Mensch und Welt oder auch verschiedene Konzepten persönlicher Sinnfindungen werden mit dem Begriff Spiritualität bezeichnet. Meist scheint es so zu sein, dass man wenn man von Spiritualität spricht, eine eher religiös ungebundene Form von Glauben meint an etwas, was über den Menschen hinausgeht und seinem Leben Sinn verleiht – ohne die Grenzen einer institutionalisierten Religion. Der Religionspädagoge Anton A. Bucher schlägt folgende Eingrenzung von Spiritualität vor: Spiritualität ist „wesentlich Verbundenheit und Beziehung ... und zwar zu einem den Menschen übersteigenden, umgreifenden Letztgültigen, Geistigen, Heiligen, das für viele nach wie vor das Göttliche ist; aber auch die Beziehung zu den Mitmenschen und zur Natur. Diese Öffnung setzt voraus, dass der Mensch vom eigenen Ego absehen bzw. dieses transzendieren kann.“[2]
In diesem Sinne greift der Begriff Kinderspiritualität dann alle die spirituellen Phänomene auf, die sich im Kontext von Kindern ereignen: in ihrer Persönlichkeit, ihrer Weltsicht, ihrer Erziehung und Begleitung. Zwei Aspekte im Leben von und mit Kindern sind dabei zu bedenken: Erstens: der Drang der Kinder, ihre Welt zu begreifen und sie sich anzueignen. Und zweitens: das Bindungsverhalten von Kindern zu ihren Bezugspersonen.
Staunend die Welt entdecken
Sowohl aus der Entwicklungspsychologie als auch aus der Neurobiologie ist bekannt, dass Babys vom ersten Augenblick an versuchen, die Welt um sich herum aufzunehmen und zu verstehen. Für die Intelligenzentwicklung des Kindes sind das die ersten Auslöser, aber auch für eine mögliche spirituelle Entwicklung[3], die sich schon bei kleinen Kindern im Staunen, Fragen und Zweifeln an erlernten Erklärungen anbahnt. Für das Leben mit Kindern von 0 bis 10 (egal ob in der Familie oder Kita) bedeutet das, zunächst diese Äußerungen wahrzunehmen und stehen zu lassen als eigenständige Deutungs- und Antwortversuche der Kinder auf die grundlegenden Fragen unserer Existenz (Spiritualität von Kindern). Dazu gehört auch, Situationen und Gelegenheiten zu ermöglichen, in denen Kindern über sich selbst hinaus Erfahrungen machen können und diese von sich aus deuten können. Zum Beispiel: Kleine Kinder leben oft noch in einer magischen Welt und finden für bestimmte Naturphänomene wie Wolken und Wind, Sonne und Tag-Nacht-Wechsel, Jahreszeitenwechsel ihre eigenen „übernatürlichen“ Erklärungen. Ältere Kinder machen sich dagegen auch schon mal Gedanken darüber, warum die Welt so gut oder so schlecht ist, oder was vor dem Urknall war. Kinder brauchen dabei unvoreingenommene Gesprächspartner, die mit ihnen die Rätsel der Welt entdecken: beim Nachfragen, wenn es darum geht, die Äußerungen und Handlungen der Kinder zu verstehen und dabei helfen, diese zu formulieren; genauso wie beim Rückfragen oder Hinterfragen, um das Kind zu weiteren Gedanken und Äußerungen zu ermutigen oder das Gespräch zwischen mehreren Kindern zu moderieren (Spiritualität mit Kindern).
Bindung schafft Vertrauen
Aber Kinder wollen nicht nur die Welt entdecken und sie sich u.a. durch eigene Erklärungsmuster aneignen. Auch wenn Babys von Beginn an mit ihrer Umwelt in Interaktion treten, so ist doch die Bindung des Kindes zur Mutter und/oder Bezugsperson eine unverzichtbare Basis. Die Zuwendung und liebevolle Erfüllung seiner Bedürfnisse schaffen die Bindung. Diese Bindungserfahrung schafft Vertrauen, oder wie man auch sagt: „Ur-Vertrauen“. Vom Urvertrauen oder der Empfindung, dass letztlich „alles gut ist“, ist es nicht weit zur Formulierung von spirituellen oder religiösen Inhalten. Das meint auch die Theologin Helga Kohler-Spiegel, wenn sie sagt: „Religiöse Erfahrungen sind in ihrem Kern Bindungserfahrungen“[4] (das lateinische Wort „religio“, auf das das Wort Religion mit zurückgeht, bezeichnet u.a. die Rückbindung über uns selbst hinaus, eine Bindung an etwas Göttliches). Auch die Hirnforschung (Gerald Hüther) betont, wie wichtig eine gelingende Bindung für das gute Aufwachsen von Kindern ist. „Kinder brauchen stabile Beziehungen, ein Höchstmaß an emotionaler Sicherheit, um Interesse an der Welt um sich herum entwickeln zu können und damit dem Gehirn Impulse für sein immenses Wachstum in den ersten Jahren zu geben. Diese Sicherheit geben nicht nur Bezugspersonen, sondern auch der Glaube an andere – oft auch imaginäre – Wesen, der Glaube an Gott, Jesus, Engel oder Fantasiewesen ...“[5]
Mit allen Sinnen Gott erspüren
Hier setzt die dritte Dimension von Kinderspiritualität an (Spiritualität für Kinder): Im Leben mit Kindern wird das neugierige Fragen und kreative Denken von Kindern wahrgenommen, gefördert und mit passenden Methoden aus der (Elementar)pädagogik unterstützt, mit dem Ziel: das Kind dabei zu unterstützen, seine Welt zu deuten und seinen Platz darin zu finden (Kohärenzgefühl) und mit Schwierigkeiten umzugehen (Resilienz): „Spirituelle Erfahrungen in der Natur, mit religiösen Festen oder mit Ritualen tragen dazu bei, dass Kinder die Kompetenz entwickeln, Schwierigkeiten leichter zu überwinden und ihr Leben in der Gewissheit in die Hand zu nehmen, dass sie nie alleine sind. Kinder mit diesen existenziellen Kompetenzen verfügen über eine hohe intuitive Wahrnehmungsfähigkeit. Sie beschäftigen sich auch später mit religiösen Fragen und sind offen für Theorien und Vorstellungen im spirituellen Bereich, die nicht eindeutig wissenschaftlich nachgewiesen werden können.“[6]
Aus christlicher religionspädagogischer Sicht heißt Kinderspiritualität damit auch, nicht einseitig in eine Vermittlungsdidaktik zu verfallen, sondern Kinder als Subjekte ihrer eigenen religiösen Wahrnehmung und Deutung ernst zu nehmen. Erst auf dieser Basis werden Anstöße und Materialien geboten zu und mit spezifischen Elementen und Symbolen der christlichen Religion, Angst machenden Gottesbildern begegnet und religiöse Sprachmuster zur Verfügung gestellt. Themen sind u.a.:
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Wie kann man eine „heilige“ Atmosphäre schaffen, in der alle Sinne für Gott offen werden können?
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Rituale als Wegmarken im Alltag (Tischgebet, Abendrituale, Segensrituale, Namenstag, Geburtstag ...)
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Feste, Bräuche und Riten im christlichen Jahreskreis: Ostern, Erntedank, St. Martin, Adventszeit und Weihnachten ...
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Geschichten von Gott und den Menschen (z.B. in Bibelgeschichten)
Für die Erwachsenen bedeutet dies: „Wenn wir uns darauf einlassen, mit unseren Kindern Spiritualität zu entdecken, dann öffnen auch wir uns für die „wunder“-vollen Erfahrungen, für Licht und Wärme, für Musik und Besinnlichkeit, und wir spüren mit unseren Kindern gemeinsam, ‚dass da mehr ist’.“[7]
[1] Diese drei Blickwinkel haben ihren Ursprung in den "drei Dimensionen des Theologisierens mit Kindern", die der Religionspädagoge Friedrich Schweitzer beschrieben hat. In: Anton A. Bucher u.a. (Hrsg.), Jahrbuch für Kindertheologie, Stuttgart 2003. Schon einige Jahrzehnte zuvor waren in den USA verschiedene Programme entstanden, die das "Philosophieren mit Kindern" über grundlegende Fragen zum Inhalt hatte und die Kinder als Subjekte dieses persönlichen Nachdenkens in den Mittelpunkt rückten.
[2] Anton A. Bucher, Psychologie der Spiritualität. Handbuch, Programm PVU, Psychologie Verlags Union, © Beltz Verlag, Weinheim, Basel 2007, S. 56.
[3] Katharina Bäcker-Braun/Monika Arnold, Religiöses Erleben von Anfang an. Rituale, Spiele und Lieder für krippe, Kita und Eltern-Kinde-Gruppen, Don Bosco Medien, München 2011, S. 9.
[4] Helga Kohler-Spiegel, Über uns selbst hinaus. Bindungserfahrungen und Religion, vortrag 59, Internationale Pädagogische Werktagung Salzburg 2010.
[5] Katharina Bäcker-Braun/Monika Arnold, Religiöses Erleben von Anfang an. Rituale, Spiele und Liedern für Krippe, Kita und Eltern-Kind-Gruppen, Don Bosco Medien, München 2011, S. 10.
[6] Katharina Bäcker-Braun: Kluge Babys – schlaue Kinder. Grundlagen, Spiele und Ideen zur Intelligenzentwicklung, Don Bosco Medien, München 2. Aufl. 2009, S. 128.
[7] Katharina Bäcker-Braun, Kluge Babys – schlaue Kinder. Grundlagen, Spiele und Ideen zur Intelligenzentwicklung, Don Bosco Medien, 2. Aufl. 2009, S. 159.
Esther Hebert
Esther Hebert ist Theologin und Verlagslektorin für Religionspädagogik. Mit ihrer Familie lebt sie bei Freising.
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Esther Hebert ist Theologin und Verlagslektorin für Religionspädagogik. Mit ihrer Familie lebt sie bei Freising.
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