Kinderbibelgeschichten

Entwicklungsbegleitung: Ich sehe dich und verstehe, was du brauchst!

Publiziert am 09.01.2024  von Sybille Schmitz

Die fünf fachlichen "Brillen"

Kinder zeigen das von sich, worauf wir Erwachsene achten. Sie entfalten das, wofür sie eine Rückmeldung (Verstärkung) erhalten. Wenn Sie beispielsweise die rein kompetenzorientierte Brille (SISIMIK, PERIK, SELDAK, KOMPIK, BASIK, etc.) aufsetzen, dann sehen Sie nur einen kleinen, aus dem Kontext gerissenen und dementsprechend unvollständigen Teilbereich der kindlichen Entwicklung. Für Ihre pädagogische Arbeit und für die Beratung der Eltern brauchen Sie aber einen 360°-Blick auf das Wesen, das Verhalten und die Entwicklung der Kinder. Dieser 360°-Blick besteht aus insgesamt fünf fachlichen „Brillen“, die Sie nutzen können, um wirklichdurchzublicken.

Die ressourcenorientierte "Brille"

Mit dieser Brille betrachten und benennen Sie all diejenigen Menschen, all diejenigen Tiere und all diejenigen Lebensumstände, Dinge, Orte, Tätigkeiten, Erfahrungen, Werte, Erinnerungen, Eigenschaften, Gegebenheiten oder Rahmenbedingungen etc., die das Kind und seine Familie stärken, unterstützen, motivieren, Kraft geben, trösten, entlasten, Zuversicht schenken, Mut machen, Sinn stiften, Inspiration bieten und/oder die sozialen Beziehungen vertiefen und schützen.

Es gibt zwölf verschiedene Arten von Ressourcen im Leben von Kindern:

soziale, emotionale, kognitive, personale bzw. innerpsychische, körperliche und materielle Ressourcen, organisatorische und zeitliche Ressourcen, gesellschaftliche und Umgebungsressourcen, Ressourcen in der Tageseinrichtung und in der Schule, kulturelle bzw. interkulturelle Ressourcen, spirituelle oder religiöse Ressourcen, mentale Ressourcen und handlungsleitende Werte.

Dieser Reichtum an Ressourcen macht deutlich: Es lohnt sich hinzuschauen und mit dem Kind und den Eltern zusammen herauszufinden: Was stärkt euch? Was läuft alles gut? Was
gelingt? Wo, wie und wann tankt ihr Kraft? Womit ist die Familie gut versorgt? Über welche persönlichen Stärken verfügt das Kind? Usw. 

Als praktische Methode empfehle ich Ihnen die Schatzkarte der kindlichen Ressourcen.

Sie gestalten mit den Eltern zusammen und je nach Alter auch mit dem Kind zusammen ein individuelles Plakat mit Symbolen, Begriffen, Fotos, Mind-maps und Zeichnungen, auf dem alle Ressourcen bildlich (und begrifflich) dargestellt sind, die dieses Kind zurzeit am meisten stärken. Was für ein Schatz, den die Eltern nach diesem Gespräch mit nach Hause nehmen dürfen und an der Zimmertür des Kindes aufhängen können. Insbesondere Kinder mit auffälligen Verhaltensweisen werden durch ein individuelles Ressourcenplakat gestärkt und vor einseitiger Stigmatisierung bewahrt.

Die bedürfnisorientierte "Brille"

Als nächstes wenden wir uns der bedürfnisorientierten Brille zu: Kinder handeln, denken und fühlen in allen Lebensbereichen bedürfnisbezogen. Lernen und kindliche Reifungsprozesse werden durch Bedürfnisse angeregt, aufrechterhalten (Motivation, Durchhaltevermögen) und zur Vollendung gebracht. Kinder wachsen und reifen nicht trotz ihrer Bedürfnisse, sondern aufgrund ihrer Bedürfnisse. In meiner jahrelangen Recherche, Beobachtung und durch den Austausch mit vielen pädagogischen Fachkräften komme ich auf eine Sammlung von über 250 Begriffen für kindliche Bedürfnisse. Diese große Vielfalt finden Sie übersichtlich zusammengefasst in 28 Bedürfnisbereichen.

Diese 28 Bedürfnisbereiche sind

  • die zentrale fachliche Voraussetzung für eine bedürfnisorientierte Pädagogik,
  • die Beobachtungsgrundlage für die Einschätzung kindlichen Verhaltens,
  • eine Orientierungshilfe im Elterngespräch und in der Elternberatung,
  • ein Leitfaden für Fallbesprechungen und Hilfeplangespräche.

 

Erst, wenn Sie alle 28 Bedürfnisbereiche kennen und sich darin üben, diese Bedürfnisse bei den Kindern zu beobachten, können Sie auch beim einzelnen Kind herausfinden: Welches
Bedürfnis verbirgt sich hinter Deinem Verhalten? Welches Bedürfnis versuchst Du gerade zu erfüllen? Was brauchst Du, um Dich bei uns in der Einrichtung wohlfühlen zu können? Was sind zurzeit Deine wichtigsten Kern-Bedürfnisse? Welche Bedürfnisse zeigst Du zuhause? Wie gut kennen Deine Eltern bzw. wir Pädagog*innen Deine Bedürfnisse?

Für die Entwicklungsgespräche mit den Eltern, aber auch für Fallbesprechungen im Team können Sie die Fotokarten „Kindliches Verhalten verstehen – Bedürfnisse erkennen“ nutzen.

Mit Hilfe dieser Karten können Sie sich selbst, Ihr Team und auch die Eltern für die Bedürfnisse der Kinder sensibilisieren.

Die beziehungsorientierte "Brille"

Lassen Sie uns jetzt die beziehungsorientierte Brille aufsetzen: Die Hirnreifung bei Kindern und die Entwicklung des Selbst sind ganz und gar abhängig von der Qualität der Beziehungen, die Kinder in den ersten Jahren bis etwa zum 12. Lebensjahr erfahren. Wir Menschen sind zu hundert Prozent Beziehungswesen: Unser Identitätsempfinden, Kompetenzerleben, unsere Selbstwirksamkeit, unsere Anstrengungsbereitschaft und Motivation sind eingebettet in die Beziehungen, die wir zu anderen Menschen entwickeln. Kinder erfahren durch die Interaktion mit Bezugspersonen und mit anderen Kindern, dass es da offenbar ein „Du“ gibt und an dieser Erkenntnis reift dann die Einsicht, dass es da offenbar auch ein „Ich“ gibt. Für ihre psychische Gesundheit brauchen Kinder liebevolle, verlässliche, sichere, berechenbare, achtsame und respektvolle Beziehungen zu ihren Eltern und zu den pädagogischen Fachkräften, mit denen sie jeden Tag viele Stunden in der Einrichtung verbringen. Wenn Sie die beziehungsorientierte Brille aufsetzen, dann erkennen Sie den Unterschied zwischen „Gehorsamkeitshaltung“ und „Beziehungskultur“: Gehorsamkeitshaltung Beziehungskultur

 

  Gehorsamkeitshaltung Beziehungskultur

 

  Strikte Durchsetzung von unpersönlichen Regeln

 

Gegenseitiges Sich-Kennenlernen und Vertrauensaufbau stehen im Vordergrund.

 

  Einteilung von Verhalten in „richtig – falsch“, 
  „schuldig – unschuldig“, „entweder – oder“

 

„Sowohl – als auch“-Haltung: kein Schwarz-Weiß-Denken, sondern ein offenes Ohr für die    Zwischentöne und für die Befindlichkeit aller

 

  „Warum hast du das gemacht ??!!??“

 

„Was brauchst du?“, „Wie geht es dir?“, „Was war los?“, „Was wolltest du?“

  Du-Botschaften:
  „Du sollst ...“,
  „Du musst ...“,
  „Du hast schon wieder ...“ usw.

  Man-Botschaften:
  „Man darf nicht ...“,
  „Man soll ...““,
  „Das macht man so.“ etc.

  Lob als Manipulationsmittel:
  „Das hast Du aber gut gemacht.“ (Verstärkerpläne)

  Bestrafung als Erziehungsmittel

Ich-Botschaften:
Die Erwachsenen gewähren den Kindern Einblick in ihre Gedanken und Gefühle, indem sie ehrlich mitteilen, was sie gerade brauchen und wo ihre Grenzen verlaufen.
Die Ich-Botschaften entspringen der inneren Haltung der Erwachsenen und sind keine angelernten „Kommunikationstricks“.

 

 

Mit dieser Tabelle (eine ausführlichere Version finden Sie in „Ich sehe Dich und verstehe, was Du brauchst“, auch zum Ausdrucken als Download-Material) können Sie in Ihrem Team gemeinsam reflektieren:

Wie begegnen wir den Kindern? Welche Beziehungsqualität erleben die Kinder bei uns in der Einrichtung? Welche dieser beiden Grundeinstellungen (Gehorsamkeitshaltung versus Beziehungskultur) überwiegt in unserer Begegnung mit den Kindern? Wo sehen wir Verbesserungsmöglichkeiten?
 

Die situationsorientierte "Brille"

Bleibt uns noch die situationsorientierte Brille: Diese Brille lenkt den Blick einerseits auf die persönliche Lebenssituation des Kindes und andererseits auf die situativen Einflussfaktoren, die auf die Kinder und ihr Verhalten in verschiedenen Situationen des Alltags einwirken.

Kinder im Alter unter 10 Jahren sind in ihrem Denken, Fühlen, Handeln und Lernen ganz und gar eingebunden in die persönliche Lebenssituation, die sie zuhause und in der Tageseinrichtung bzw. in der Schule vorfinden. Sie bringen morgens nicht nur ihren Brotzeitrucksack mit in die Kita bzw. in die Krippe, sondern sie haben geistig und emotional auch immer die aktuellen Themen, Belastungen und erfreulichen Ereignisse der Familie mit dabei, die sie zu verarbeiten versuchen. Und genau darin besteht die Bildung und Persönlichkeitsentwicklung von Kindern im Alter bis etwa zum 10. Lebensjahr: sich mit denjenigen Ereignissen, Themen, Krisen, Erfolgen, Veränderungen und Lebensumständen auseinanderzusetzen, die sich im unmittelbaren Erleben der Kinder und ihrer Familien ereignen. Deshalb ist es wichtig, dass die persönlichen Themen der Kinder in der Krippe, im Kindergarten, in der HPT und im Hort aufgegriffen werden und die Kinder darin unterstützt werden, ihre persönliche Lebenssituation verarbeiten zu können und in ein sinnstiftendes Gesamtgefüge einordnen zu können (so genannte Lebensweltorientierung).

Anregungen zur praktischen Umsetzung und einen Aufnahmebogen, der Sie und die Eltern dabei unterstützt, die persönliche Lebenssituation der Kinder differenziert zu erfassen,
finden Sie im Buch (auch als Download-Material). Wetterverhältnisse, Temperatur, Tageszeit, Lichtverhältnisse, Lärmpegel, Reizflut, geistige Anforderung, (unausgesprochene) Konflikte, Gestaltung der Räume …

… es gibt viele situative Einflussfaktoren, die sich im Alltag auf die Kinder und ihr Verhalten unmittelbar auswirken und die nur mit der situationsorientierten Brille entdeckt und
analysiert werden können. Deshalb finden Sie im Buch "Ich sehe dich und verstehe, was du brauchst" eine entsprechende Checkliste mit situativen Einflussfaktoren, die Sie für Fallbesprechungen, pädagogische Planungen und auch für Elterngespräche einsetzen können (auch als Download-Material verfügbar).

Fazit

Erst wenn wir ALLE fünf „Brillen“ kennen und benutzen, können wir die Entwicklung und das Verhalten der Kinder verstehen und einordnen. Erst mit den Erkenntnissen aus allen fünf
Grundorientierungen können wir Lösungsschritte im Umgang mit den Kindern entwickeln und sie angemessen begleiten.

Sybille Schmitz bildet pädagogische Fachkräfte in Krippe, Tagespflege, Kita, Hort, HPT und Schulen fort zu Fragen der kindlichen Entwicklung, Kommunikation (mit Kindern, Eltern und im Team), Teamentwicklung und anderen pädagogischen Themen.

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